Der Kampf um den Supermarkt gegenüber der Scholl-Schule

Über den Autor: Herr Poggenhans unterrichtete von 1983 bis zu seiner Pensionierung im Jahre 2010 an unserer Schule Deutsch und Englisch. Etwa 25 Jahre lang war er für die Öffentlichkeitsarbeit an der Scholl-Schule zuständig. In dieser Zeit verfasste er jährlich etwa 15 Artikel über unsere Schule, die in der Lokalpresse – zuerst im „Bergsträßer Anzeiger“ und im „Bergsträßer Echo“, nach der Einstellung des „Bergsträßer Echo“ nur im BA – erschienen. Als direkt gegenüber der Schule ein Supermarkt gebaut werden sollte, fiel der Öffentlichkeitsarbeit eine wichtige Rolle zu. Wir haben unseren Ruheständler gebeten, uns über seinen Anteil am Kampf gegen den Supermarkt einen Bericht zu schreiben.



Rolf Poggenhans


Als der Bürgermeister tooobte …

Der Kampf um den Supermarkt gegenüber der Scholl-Schule


Der langgediente Lokalredakteur des „Bergsträßer Anzeiger“, der sich mit den Tricks und Winkelzügen im verfilzten Klüngel der Bensheimer Lokalpolitik gut auskannte, lächelte milde und sagte in einem fast väterlichen Ton: „Ich finde es ja richtig, dass Sie gegen diese Pläne vorgehen, ich teile vollkommen Ihre Meinung. Aber glauben Sie mir – Sie haben keine Chance.“ Ich musste an den klugen Spruch denken „Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren“ und entgegnete: „Wir geben erst auf, nachdem wir alles versucht haben.“

Diese Pläne - das bezog sich auf ein Vorhaben der Stadt Bensheim, von dem wir in der Scholl-Schule völlig unvorbereitet überrumpelt wurden. Die Stadtoberen hatten beschlossen, ein großes Grundstück an der Taunusstraße an einen Investor zu verkaufen, der dort einen Supermarkt für die Handelskette Rewe bauen wollte. Das Grundstück lag direkt gegenüber unserem Schulgelände – dort, wo sich heute das Basketballfeld und andere Sporteinrichtungen befinden. Damals, im Jahre 2001, war dort ein unbefestigter freier Platz, bedeckt mit Steinen und Unkraut, nach Regen mit Pfützen übersät – einfach hässlich. Zur Taunusstraße hin diente diese Freifläche als Parkplatz für die Lehrer und Schüler unserer Schule.

Von den Verkaufsplänen für dieses Grundstück hatte niemand in der Scholl-Schule die leiseste Ahnung, bis eines Tages die Nachricht im „Bergsträßer Anzeiger“ stand. Keiner der vielen Eingeweihten hatte es für nötig befunden, vorher die Schulleitung, die Lehrer, die Eltern nach ihrer Meinung zu fragen oder sie auch nur zu informieren. Bei so viel selbstherrlicher Eigenmächtigkeit glaubte auch kaum ein Lehrer an einen Zufall, dass dieser Artikel ausgerechnet während der Herbstferien in der Zeitung erschien – in einer Zeit, in der sich die Schulgemeinde nicht geschlossen dagegen wehren konnte.

Nach dem Ende der Ferien war dann die Aufregung im Lehrerzimmer groß. Die typische erste Reaktion war: „Wo sollen wir denn künftig parken?“ Kein Problem, so die coole Reaktion der Stadtverwaltung: Der Kreis Bergstraße besitzt ein Grundstück nördlich des Baggersees, neben dem heutigen Restaurant „Villa Lacus“, dort können Schüler und Lehrer parken. „So weit sollen wir gehen und dazu noch den Berliner Ring überqueren – keine Firma würde ihren Angestellten das zumuten,“ - so etwa lautete der erboste Tenor im Lehrerzimmer. „Wissen die Herren im Rathaus eigentlich, wie viele Bücher und Hefte wir immer herumschleppen müssen?“ Ähnlich verärgert im Ton, nur etwas feiner formuliert war auch eine Resolution des Personalrats, die an die Verantwortlichen der Stadt gerichtet war.

Doch die Stadt blieb stur. Das verstärkte den Widerstand in vielen Bereichen der Schulgemeinde. Nach anfänglichem Zögern machten alle mit: Eltern und Lehrer mit Verbindung zu Lokalpolitikern, insbesondere die engagierte und allseits beliebte Elternvertreterin Elisabeth Schuhmann, der damalige Elternbeiratsvorsitzende Dr. Klaus Kübler, der Personalrat, Schulleiter Helmut Krenzer und viele, viele andere. Herr Krenzer war es auch, der mich eines Tages ansprach und mich bat, einen Artikel über den Supermarkt zu schreiben.

Es wurden viele Artikel, es dauerte viele Monate, und darüber möchte ich im Folgenden berichten. Es wäre falsch, wenn durch diesen Bericht der Eindruck entstünde, als hätte ich allein den Kampf auf Seiten der Schulgemeinschaft bestimmt. Eltern, Lehrer, Schüler waren damals – nach anfänglicher Schockstarre - sehr einig und sehr engagiert, es liefen viele Initiativen, die ich gar nicht alle kenne. So haben viele innerhalb und außerhalb der Scholl-Schule einen großen Anteil am Ausgang der Auseinandersetzung. Und ich war eben zuständig für den Kampf um die öffentliche Meinung. Viele Jahre lang hatte ich immer wieder Artikel über schulische Ereignisse verfasst.

Für den neuen Artikel informierte ich mich erst einmal über die Hintergründe. Was ich vor allem von einem Mitglied des Gemeinderates erfuhr, machte mir klar: Das wird nicht leicht!



Eine geniale Idee der Stadtgewaltigen

Denn aus ihrer Sicht hatten Bürgermeister, Stadtdezernenten, Stadtverordnete, Repräsentanten der Stadtteile mit dem geplanten Grundstücksverkauf einen fast genialen Weg gefunden, der mehrere Probleme mit einem Schlage löste.

  • Das erste Problem wurde aufgeworfen vom Tennisclub FSG, der jahrelang im Schatten der Hochhäuser der Taunusstraße auf städtischem Grund auf einigen Plätzen gespielt hatte. Doch der Club wuchs, und der Vereinsvorstand bat die Stadt um ein deutlich größeres Vereinsgelände. Der Vorstand des Tennisclubs war mit den Bensheimer Politikern gut vernetzt, deshalb wurde im Rathaus das Anliegen der Sportler wohlwollend betrachtet.

  • Der Tennisclub verbündete sich zudem mit den Bewohnern der benachbarten Hochhäuser. Es wurde eine Bürgerinitiative gegründet. Auf einer Unterschriftenliste bekundeten viele, sie fühlten sich durch die Geräusche von den Tennisplätzen gestört: Grauenhaft, dieses nervige Plopp-plopp der Bälle! Und eine Erweiterung der Tennisanlagen komme schon gar nicht in Frage. Mit ihrer Unterschrift setzten sie sich ebenfalls für einen Umzug des Tennisclubs ein.

  • Die vielen Unterschriften und die Mitglieder des Tennisclubs machten Eindruck bei den Bensheimer Kommunalpolitikern. In Bensheim musste bald ein neuer Bürgermeister gewählt werden, der Amtsinhaber stellte sich nicht mehr zur Wahl. Da traute sich kaum ein Politiker, so vielen potentiellen Wählern vor den Kopf zu stoßen. Keiner fragte nach, ob man bei all dem Verkehrslärm vom Berliner Ring und von der Schwanheimer Straße in den Hochhäusern überhaupt noch ein Plopp-plopp hören könnte. Vor Wahlen ist bei vielen Politikern Wähler-Beglückung angesagt. Die politischen Mehrheitsverhältnisse in Bensheim waren eng. Da musste rasch gehandelt werden.

  • Und tatsächlich: Schnell war ein neues Vereinsgelände für den Tennisclub gefunden, am Berliner Ring, die dortigen Grundstückseigentümer zierten sich ein wenig und trieben so den Preis in die Höhe. Es wurde teuer für die Stadt – und diese Ausgaben waren in der langfristigen Haushaltsplanung leider nicht vorgesehen.

  • Für das letzte Problem gab es urplötzlich eine Lösung: Die Supermarkt-Kette Rewe suchte ein Gelände für einen Laden in Bensheim. Die Stadt schlug Rewe das Grundstück an der Taunusstraße gegenüber der Scholl-Schule vor. Netter Nebeneffekt: Das Gelände gehörte der Stadt. Rewe stimmte zu. Super – mit den Einnahmen aus dem Grundstücksverkauf konnte man die Ausgaben für das neue Tennisgelände decken.

  • Da Politiker - wie erwähnt - gern Wohltaten verteilen und sich insbesondere vor Wahlen dafür feiern lassen wollen, war der Umzug der Tennis-Sportler bereits beschlossene Sache, bevor der Deal mit Rewe unter Dach und Fach war. Dieses Geschäft musste jetzt unbedingt durchgezogen werden – egal, wie heftig die lästigen Störenfriede von der Scholl-Schule auch zeterten. Irgendwann würden die schon Ruhe geben.

  • Störenfriede – so sahen manche Stadtobere die Scholl-Schule. Denn für unsere Schule ist der Kreis Bergstraße zuständig, nicht die Stadt Bensheim. Und da wurmte es manchen im Rathaus, dass die Schüler und Lehrer von dieser Kreisschule das stadteigene Grundstück an der Taunusstraße als Parkplatz benutzten. Die sollen doch gefälligst auf Gelände parken, das dem Kreis gehört, nämlich auf dem Platz neben dem Restaurant Villa Lacus. Dass viele unserer Schüler und Lehrer Bensheimer Bürger sind, das störte diese kleingeistigen Kirchturm-Politiker nicht. Für eine Kreisschule fühlten sie sich nicht zuständig. Basta.

  • Möglicherweise hätte die Stadt Bensheim ihr Grundstück an der Taunusstraße schon Jahre zuvor gern an Bauwillige verkauft. Doch es gab da ein Problem: Unter einem Teil des Platzes liegt Giftmüll, nur mit wenig Erde bedeckt. Dort dürfen keine Wohnhäuser gebaut werden – aber ein Parkplatz für einen Supermarkt? Den würde man ohne kostenträchtige Sanierung des Geländes bauen können. So konnte die Stadt viel Geld für ein hässliches Gelände einstreichen, das sie vorher als nahezu wertlos angesehen hatte.

  • Es würde sogar noch mehr Geld fließen. Denn ist ein Supermarkt erst mal eröffnet, zahlt er Gewerbesteuer. An wen? An die Stadt Bensheim natürlich! Jippeee!

  • Gewerbesteuer vom Supermarkt Eifelstraße: Das muss in manchem Bensheimer Lokalpatrioten Triumphgeheul ausgelöst haben. Denn schon seit Jahren ärgerte man sich nicht nur im Rathaus über die vielen Geschäfte an der Heppenheimer Tiergartenstraße. Dort kauften leider, leider auch viele Bensheimer ein. Und das Geld aus Bensheim trug dazu bei, dass die Geschäfte in Heppenheim florierten. Die Geschäftsleute zahlten Gewerbesteuer – aber in Heppenheim. Jeder weiß: Bensheim und Heppenheim lieben sich nicht, und wenn der Bensheimer Gemeinderat der mickrigen Kreisstadt eins auswischen kann, dann zögert er nicht, er freut sich diebisch – gleichgültig, ob es um Steuern oder um Parkplätze geht. So weit reicht der Horizont mancher Politiker im Zeitalter der Globalisierung.

  • Zu guter Letzt war auch der Stadtteil-Verein der Weststadt für den neuen Supermarkt. Ein schöner, neuer Einkaufstempel in der Nähe würde den Wohnwert erhöhen – so sahen es auch die Leute aus den Hochhäusern, die Bürgerinitiative Taunusanlage. Außerdem plante die Stadt, die Grünfläche an der Taunusstraße vor den Hochhäusern zu einem kleinen Park zu erweitern. Super!!! Ein wahres Wohnparadies würde dort entstehen!

 

Nach den Recherchen war mir klar: Es gibt viele einflussreiche Leute, für die es viele gute Gründe gibt, FÜR den Supermarkt zu sein. Die Chancen, dass sich die Schulgemeinschaft GEGEN deren massive Interessen durchsetzen könnte, waren sehr gering. Manche, wie der oben zitierte Redakteur des „Bergsträßer Anzeiger“, versahen die Erfolgschancen mit einer präzisen Zahl: null!

 

 

 

Der Kampf geht los


Auch in der Scholl-Schule waren anfangs längst nicht alle dafür, dass wir den Kampf aufnehmen sollten. Schließlich mussten Schule und Stadt auch weiterhin zusammenarbeiten. Doch insbesondere der Personalrat und die Schulgruppe der GEW-Gewerkschaft mit Eva Petermann-Graubner und einige Aktivisten nahmen den Kampf auf. Ein Aufgeben kam für uns nicht in Frage, dafür war die Sache zu wichtig. Nur: Wie konnte man die Öffentlichkeit überzeugen? Mir war klar: Wir durften in der Argumentation gegen den Supermarkt nicht die Lehrer-Parkplätze in den Vordergrund stellen. Lehrer sind in der Öffentlichkeit nicht extrem beliebt, und wenn Lehrer, von Alt-Kanzler Schröder mal als „faule Säcke“ tituliert, ein paar Minuten bis zum Parkplatz gehen müssen, finden das viele Leute absolut in Ordnung. Für manche Mitbürger kann der Weg, den Lehrer zu ihrem Auto gehen müssen, gar nicht weit genug sein. Auf die Empörung der Bürger über die wegfallenden Parkplätze für Lehrer und Schüler durften wir nicht hoffen.

Noch unbeliebter als Lehrer sind allerdings Politiker. Und so enthüllte ich, wie sich die Stadtgewaltigen in Zugzwang gebracht hatten, weil sie das Geld für das neue Tennisgelände bereits verbraten hatten, ohne die Einnahmen zu sichern. In der Leserbrief-Spalte brachte uns das ein paar Sympathie-Punkte ein. Zugegeben – es war vielleicht etwas unfair, auf Politiker einzudreschen, unter denen es ja auch viele ehrenwerte, engagierte Menschen gibt. Aber in der Scholl-Schule fühlten wir uns durch den heimlichen Überraschungs-Coup der Bensheimer Politiker auch nicht besonders fair behandelt. Auf beiden Seiten wurde mit harten Bandagen gekämpft.



Aufgedeckt: Dieser Supermarkt hat ein paar Haken

 

Hauptsächlich strich ich jedoch in der Zeitung die Nachteile für das Lernen heraus. Ein Kollege hatte vorher in einer Schule in Nordhessen unterrichtet. Gegenüber dieser Schule gab es auch einen Supermarkt. „Es gab Ärger ohne Ende,“ erzählte er mir. In der Pause liefen dort viele Schüler mit lautem Gebrüll in den Laden. Kunden fühlten sich gestört, der ein oder andere Schüler „vergaß“ auch zu bezahlen, es gab Hausverbote für Jugendliche, viele Schüler kamen nach der Pause zu spät in den Unterricht. Manche Jungs deckten sich im dortigen Laden sorgar mit Alkohol ein. Und eine Kampagne für gesunde Ernährung konnte man angesichts des Supermarkt-Angebots auch gleich vergessen. Dies alles schrieb ich für die Zeitung, und um es etwas plastischer zu machen, malte ich auch aus, wie wissbegierige Scholl-Schüler künftig in einschlägigen Illustrierten die Anatomie von leicht bekleideten Damen studieren würden – und entsprechend aufgekratzt in den Unterricht zurückkehren. Fazit: Ein Supermarkt neben einer Schule? Das passt nicht zusammen.

Zudem argumentierte ich, dass ein Supermarkt in der Taunusstraße gar nicht gebraucht werde. Schließlich gibt es die Lidl- und die Edeka-Filiale an der Schwanheimer Straße. Niemand muss hungern in der Weststadt, weil es keine Geschäfte gibt.

Dazu passte ein Gutachten, das ein Marktforschungsunternehmen angefertigt hatte und von dem wir Kenntnis erhielten. Es ging um die Frage: Rentiert sich an diesem Standort ein Lebensmittelgeschäft? Antwort: Wahrscheinlich ja - allerdings sollte es kein „Nahversorger“ sein - also ein Geschäft, das lediglich auf Kunden aus der Weststadt abzielt -, sondern ein „Fernversorger“ - also ein großer Laden, der aufgrund seiner verkehrsgünstigen Lage auch für Käufer, die nicht in Bensheim wohnen, attraktiv ist. Für die Bensheimer Politiker war das kein Nachteil – im Gegenteil: Das versprach höhere Gewerbesteuern. Anders sah es für die Bürger in der Weststadt aus: Es war deutlich mehr Pkw- und Lkw-Verkehr zu erwarten. Offenbar ahnte mancher im Rathaus, dass mehr Verkehr bei den staugeplagten Weststädtern nicht gut ankommen würde, deshalb war offiziell immer nur von einem Supermarkt für die Weststadt die Rede. In der Zeitung konnten sie nun erstmals lesen, dass Rewe etwas anderes plante. So eine Informationspolitik erhöhte nicht gerade die Glaubwürdigkeit der Planer aus dem Rathaus.

In einem Artikel ging es um die Frage, wie man das hässliche Grundstück besser nützen könnte, sofern dort kein Supermarkt gebaut würde. Dafür hatte Herr Krenzer eine Idee: Wenn die Scholl-Schule in ferner Zukunft vielleicht einmal eine Ganztagsschule geworden sei, dann könnten dort doch Sportgeräte für den Nachmittags-Unterricht aufgebaut werden. Nachdem ich dies im „Bergsträßer Anzeiger“ propagiert hatte, sprach mich ein Stadtverordneter, natürlich ein Befürworter des Supermarkts, an: „Das mit der Ganztagsschule, das glauben Sie doch selbst nicht.“ Zugegeben, damals glaubte ich auch nicht daran, eine Ganztagsschule schien damals in ganz weiter Zukunft zu liegen. Für Schulen war kein Geld da. Glücklicher- und überraschenderweise änderte sich das wenig später schlagartig. Aber auch ohne Ganztagsschule war mir an dieser Stelle eine Sportanlage deutlich lieber als ein Supermarkt.

Immer häufiger erschienen nun auch Leserbriefe im „Bergsträßer Anzeiger“. Die überwiegende Mehrheit sprach sich gegen den Supermarkt aus. Dennoch kamen aus dem Rathaus keine Signale, dass man deswegen beunruhigt sei. Aber mancher fühlte sich doch gestört. Wo man doch alles so schön ausgekungelt hatte! Und nun gibt die Scholl-Schule keine Ruhe! Bei einer Gemeinderatssitzung jammerte ein Stadtverordneter, ein heftiger Befürworter des Supermarkts: Einer meiner Artikel, der um Weihnachten erschienen war, habe ihm doch glatt die ganze Weihnachtszeit verdorben. Oooh, das tut mir aber so furchtbar leid, ehrlich! Ehrlich!

Es gibt tatsächlich Politiker, die argumentative Kritik als Ruhestörung auffassen. Und es gibt wirklich Politiker, denen das Feierabend-Vergnügen von einigen Tennis-Sportlern wichtiger ist als die Arbeit in einer Schule mit weit über 1000 Schülern und 100 Lehrern. Ich meine: Solche Politiker gehören abgewählt!

 

 


Verkehrschaos in der Weststadt

Eines Tages zeigte mir Direktor Krenzer eine städtische Planungskarte, auf der unsere Schule und der künftige Supermarkt eingezeichnet waren. Das für uns beide Überraschende war: Die Zufahrt sollte nur über die Taunusstraße erfolgen, vom Berliner Ring sollte es keine Straßenverbindung zum Supermarkt geben.

Das hieß: Alle Kunden würden sich mit ihren Pkw durch die engen Straßen zwischen Scholl-Schule und Schwanheimer Straße quälen, dazu noch die Lieferanten mit ihren Lkw – auch durch die Taunusstraße, wo die Schulbusse halten und die Eltern ihre Kinder bringen und abholen. Die Schüler, von denen viele immer schon unvorsichtig zu den Bussen liefen, wären also künftig noch mehr gefährdet. Der zusätzliche Verkehr würde Krach und Gestank mit sich bringen und die Konzentration im Unterricht stören. Manche Schüler und Lehrer würden sicherlich den abgelegenen Parkplatz am Badesee verschmähen und ihre Runden durch die engen Straßen ziehen – auf der langen Suche nach einem günstigeren Parkplatz. Auch der Berliner Ring, der schon regelmäßig von Staus geplagt war, hätte noch mehr Einkaufs- und Lieferanten-Verkehr aufnehmen müssen. Als Illustration war die städtische Planungskarte neben dem Artikel abgedruckt.

Die Reaktion war gewaltig. Tagelang kannten die Leserbriefschreiber in Bensheim nur ein Thema. Der Tenor: Die Straßen in der Weststadt sind jetzt schon zugeparkt, wir wollen nicht den Krach und Gestank. Wir brauchen keinen Supermarkt in der Eifelstraße.

Zu dieser Einsicht kam auch ein Mann, von dem ich es überhaupt nicht erwartet hatte. Eines Abends rief mich dieser Mann an – seinen Namen habe ich vergessen – und stellte sich vor als der Vorsitzende der Bürgerinitiative Taunusanlage. Er sei ja gegen die Tennisplätze und für den Bau des Supermarkts gewesen, aber einen Fernversorger, viel Verkehr, Krach und Gestank wolle er jetzt auch nicht haben. Zwei Tage später stand es im „Bergsträßer Anzeiger“: Auch die Bürgerinitiative sei nun gegen einen Supermarkt an dieser Stelle, die Artikel eines Lehrers seien überzeugend gewesen.

 

 


Die Welle des Widerstands rollt

 

In der Stadt war der Rewe-Markt zum unbestritten wichtigsten Thema geworden, in der Scholl-Schule selbst merkten wir, dass wir bei immer mehr Bensheimer Bürgern mit unseren kritischen Argumenten Gehör fanden. Wir wollten die Welle, die sich da aufbaute, verstärken. Der Personalrat und die GEW-Schulgruppe hatten die gute Idee, im Forum der Schule eine Podiumsdiskussion zu veranstalten. Alle Bensheimer waren eingeladen, sich zu informieren, zu fragen und ihre Meinung zu äußern. In der Zeitung wies ich mehrfach auf die Bürgerversammlung hin.

Noch eine tolle Idee wurde in jenen Tagen geboren: In manchen Unterrichtsstunden diskutierten Schüler und ihrer Lehrer über das Supermarkt-Projekt, und nachmittags zogen dann einige Schüler los, klingelten, diskutierten mit den Menschen und sammelten Unterschriften gegen den Supermarkt. Motto: Was die Bürgerinitiative Taunusanlage in den Hochhäusern gemacht hat, das können wir auch. In den Sekretariaten der Schule stapelten sich bald die Unterschriftenlisten.

Von Frau Hillenbrand, der damaligen Sekretärin im Realschulbereich, erfuhr ich: Die treibenden Kräfte hinter der Bürgerinitiative Taunusanlage waren zwei Herren, die gar nicht in den Hochhäusern, sondern in entfernten Stadtteilen wohnten – und die folglich auch gar nicht vom Tennislärm genervt sein konnten! Ihnen gehörten in den Hochhäusern einige Wohnungen, die sie vermietet hatten. Ja, und wenn in der Nachbarschaft ihrer Wohnungen ein Supermarkt gebaut und ein Park erweitert würde – tja, dann würde der Wert ihrer Wohnungen steigen. Und die Bewohner würden sicher gerne etwas mehr Miete bezahlen. Sicher gern!

Eine ziemlich unkonventionelle Idee kam mir selbst. Ich hatte den Eindruck: Wir überzeugen zwar immer mehr Bürger, aber in der Politik bewegt sich nichts. Offenbar hält der Klüngel derjenigen, die einst die Einscheidung für den Supermarkt getroffen haben, fest zusammen. Vielleicht warten sie nur ab, bis unser Sturm der Entrüstung abebben würde. Und möglicherweise funktioniert das sogar, denn ewig würden wir den Mobilisierungsgrad der Menschen nicht so hoch halten können.

Aber vielleicht, so meine Überlegung, ist ja die schwache Stelle auf der Gegenseite nicht der Bensheimer Polit-Klüngel, sondern Rewe. Die Zentrale des Rewe-Konzerns residiert in Köln, möglicherweise wollte Rewe auch nicht selbst bauen, sondern eine Immobiliengesellschaft, von der Rewe später das Gebäude mieten würde. Deshalb hatte Rewe in Köln bzw. der Immobilienfonds vielleicht auch noch gar nichts von den Diskussionen und Protesten in Bensheim erfahren. Klar: Rewe möchte seine Waren verkaufen, möchte gute Geschäfte machen. Aber der Konzern mag keine Schwierigkeiten mit Nachbarn, die das Geschäft vielleicht sogar boykottieren. Vor allem mag die Firma keine Probleme mit Schülern, die in ihrem Laden nur Unruhe stiften und wenig Umsatz bringen.

Aber wenn wir den Hebel bei Rewe ansetzen, wie sollten wir dann vorgehen? Wir konnten schlecht mit unseren Schülern drohen, als seien sie gezielt einzusetzende Provokateure. Es wäre auch gefährlich, wenn wir Rewe explizit warnen würden, dort einen Supermarkt zu eröffnen. Denn an einem solchen Projekt hängt viel Geld, es geht um Grundstückskauf, Planungskosten etc. Am Ende könnten wir noch verklagt werden, wenn durch uns ein großes Projekt geplatzt wäre.



 

Super: Der Bürgermeister tooobt!

 

Die Idee: Wir laden Rewe zu unserer Bürgerversammlung im Forum ein. Ich setzte mich gleich an den Computer und formulierte eine entzückend-freundliche Einladung. Wir – die Schule – und Rewe seien ja bald Nachbarn, und wir seien an guter Nachbarschaft interessiert. Wir wollten allerdings nicht verschweigen, dass es künftig einige Probleme geben könnte. Manche dieser Probleme seien bereits in der Lokalpresse ausführlich diskutiert worden, und da wir nicht wüssten, ob man bei Rewe diese Diskussionen verfolgt hätte, würden wir die entsprechenden Artikel und Leserbriefe diesem Brief beilegen.

Was die mögliche Störung des Geschäftsbetriebs durch Schüler unserer Schule angehe, schrieb ich: Wir verfügen glücklicherweise über ein großes, offenes Schulgelände und wir können und wollen es nicht überwachen oder gar absperren. Aber über diese und andere Probleme könnten wir gern bei der Bürgerversammlung reden. Und wir würden uns sehr freuen, wenn wir jemanden aus dem Hause Rewe bei der Podiumsdiskussion begrüßen dürften. Mit freundlichen Grüßen. Sehr freundlich.

Am nächsten Morgen berichtete ich Herrn Krenzer von meiner Idee. Er fand sie gut, die Sekretärin veredelte meinen Entwurf mit dem Briefkopf der Schule – und ab die Post. Direktor Krenzer und ich waren uns einig: Die werden nicht kommen, aber vielleicht werden sie ins Grübeln kommen und die Stadt Bensheim fragen, ob es später wirklich gravierende Schwierigkeiten in der Filiale geben könnte.

Nur wenige Tage später kam der Direktor in der Schule auf mich zu und rief aufgeregt: „Herr Poggenhans, Sie werden es nicht glauben: Rewe kommt! Für die Zentrale ist die Einladung zu kurzfristig, aber sie schicken jemanden aus der Regionalvertretung zu unserer Bürgerversammlung.“ „Super!“, sagte ich.

Es muss ein oder zwei Tage später gewesen sein, da kam Direktor Krenzer wieder auf mich zu. Diesmal schrie er fast: „Herr Poggenhans, der Bürgermeister tooobt!“ Ich entgegnete: „Jawolllll! Besser kann es nicht laufen.“ Offenbar hatte sich ein Rewe-Chef tatsächlich an den Bürgermeister gewendet und ihm einige unangenehme Fragen gestellt. Vielleicht wollte ja Rewe nun plötzlich das wunderschöne städtische Grundstück gar nicht mehr kaufen.

 

 


Amtsmissbrauch

Unverkennbar: Im Rathaus lagen die Nerven blank. Wie sehr wir die Stadtgewaltigen gereizt hatten, das wurde kurze Zeit später klar. Zwei junge Schülerinnen unserer Schule waren nachmittags von Haus zu Haus gegangen, hatten mit den Bewohnern geredet und Unterschriften gesammelt. Als die beiden in einer Bäckerei waren, kam eine stadtbekannte Politesse in Uniform herein, die üblicherweise Knöllchen an Parksünder verteilt. Sie forderte die kleinen Schülerinnen in angeblich recht barschem Ton auf, ihr die Unterschriftenlisten auszuhändigen – was die verängstigten Schülerinnen dann auch taten.

Natürlich hat jeder das gute Recht, Unterschriften zu sammeln, und natürlich ist es ein eklatanter Rechtsverstoß, wenn jemandem solche Listen abgenommen werden, noch dazu von einer Amtsperson. In diesem Falle hatte die Politesse den Auftrag für ihr Eingreifen von einem Dezernenten aus dem Bensheimer Rathaus bekommen.

Herr Krenzer und ich waren uns einig. Dieser unglaubliche Vorfall zeigte: Die Chefs im Rathaus waren mächtig in die Defensive geraten. Wenn wir jetzt eine Anzeige machen, wird das uns wenig bringen, eine Klärung wird lange dauern und die Fronten möglicherweise langfristig verhärten. Wir waren ja in vielen Fragen auf eine Kooperation mit der Stadt angewiesen, wir wollten auch mit ihr partnerschaftlich zusammenarbeiten. Wir wollten uns nur gegen diesen vermaledeiten Supermarkt wehren. In der Zeitung, in der ausführlich über den Vorfall berichtet worden war, zitierte ich den Direktor mit dem Satz, es gehe uns nicht um „Petitessen mit Politessen“, sondern darum, dass der Supermarkt nicht direkt gegenüber der Schule gebaut werde.



 

Der Mann mit dem Handy

 

Die Bürgerversammlung im Forum war gut besucht. Eltern, Lehrer, Schüler und besonders viele Bürger aus der Weststadt waren da, die mit den Politikern auf dem Podium zeitweise erregt diskutierten.

Natürlich waren wir auf einen Gast besonders gespannt. Doch kurz vor Beginn sagte Direktor Krenzer zu mir: „Bisher hat sich niemand bei mir vorgestellt, der von Rewe kommt.“ Doch während der Veranstaltung entdeckte der Direktor vom Podium aus jemanden hinten vor den Musiksälen. „Da war ein Mann, gut gekleidet im Anzug, der hin- und hergegangen ist und ständig in sein Handy geredet hat,“ berichtete er mir später.

Die Tendenz der Diskussion war klar. Die Mitglieder der Schulgemeinde argumentierten: Der Supermarkt gegenüber stört das schulische Leben und Lernen gewaltig. Und die meisten Weststädter sagten: Wir haben genügend Einkaufsmöglichkeiten hier, wir brauchen keinen Supermarkt, und wir wollen nicht den zusätzlichen Verkehr. Die Vertreter der Stadt argumentierten mit den verbesserten Einkaufsmöglichkeiten und der Erweiterung des Parks. Doch damit konnten sie die wenigsten überzeugen, zumal ein winziger Park in der Nähe einer verkehrsreichen Kreuzung nie eine perfekte Oase der Ruhe und Erholung werden könnte.

Auch die Bürgermeister-Kandidaten der CDU und der SPD waren da. Natürlich sahen sie, wie viele Leute gekommen waren, natürlich merkten sie, wie viele Bürger mit großer Bestimmtheit und Entschlossenheit das Projekt ablehnten. Bald waren auch noch Wahlen ... Wenn alle Anwesenden ihnen nun die Stimme verweigern würden … Solche Gedanken jagen Politikern den Puls in die Höhe.

 


 

Ich kneife mich. Haben wir gewonnen?


Dann kam die große Kehrtwende. Die Veranstaltung war schon beendet, die meisten Leute schon gegangen, da kam Dezernent Schimpf, der starke Mann in der Bensheimer Stadtverwaltung, auf Direktor Krenzer zu und sagte: „Möglicherweise gibt es da ja noch eine andere Möglichkeit. Wir könnten den Supermarkt ja da bauen, wo die alten Tennisplätze sind, an der Kreuzung Schwanheimer Straße und Berliner Ring. Das Grundstück gehört ja auch der Stadt. Aus der Kreuzung könnten wir einen Kreisverkehr machen, mit einer Ausfahrt für Lidl, einer für Rewe und einer für einen Baumarkt. Ich finde Kreisverkehr-Lösungen sowieso viel besser als Kreuzungen.“

Ich musste mich kneifen. Hatten wir es wirklich geschafft? Dann wäre der monatelange Einsatz, das große Engagement von vielen Eltern, Lehrern, Schülern nicht umsonst gewesen.

Auch der Vorsitzende der Bürgerinitiative Taunusanlage hatte das scharfe Wendemanöver der Stadt mitbekommen. Nach der Versammlung sprach er mich vor der Schule an: „Schreiben Sie nur weiter Ihre Artikel und schieben Sie den Supermarkt in Richtung Kreuzung. Wenn Sie das geschafft haben, schiebe ich ihn noch weiter weg. So viel Einfluss habe ich, das schaffe ich.“



Er schaffte es nicht.


Es dauerte nicht lange, da war der Supermarkt an der Taunusstraße auch offiziell beerdigt. Offenbar in Übereinstimmung mit Rewe – vielleicht sogar auf Wunsch von Rewe – hatte die Stadt ihre Planung geändert. In den neuen Unterlagen war ganz plötzlich der Supermarkt dort eingezeichnet, wo er dann tatsächlich auch gebaut wurde: nahe der Kreuzung, weit weg von der Scholl-Schule, ohne Zufahrt von der Taunusstraße. Die Kreuzung blieb allerdings bestehen, denn für den Umbau zu einem Kreisverkehr fehlte der Stadt das Geld.

Wenn ich heute an die Auseinandersetzung von damals zurückdenke, fallen mir zwei Sinnsprüche ein, die mir viel bedeuten: „Du hast keine Chance, aber nütze sie“ von Herbert Achternbusch und – siehe oben - der Gedanke, der mal Rosa Luxemburg und mal Bert Brecht zugeschrieben wird: „Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“

Viel Erfolg beim Kämpfen – aber, liebe Schüler, bitte nicht nur für eigene Interessen und bitte, bitte nicht nur bei Computerspielen!


Rolf Poggenhans

 


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